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Aktuelle Meldung



19.12.2013 - Kategorie: ELKRAS

ELKRAS/Ukraine: Interview mit Jurij Matwijtschenko




Im Studierendenheim des Martin-Luther-Bundes in Erlangen wohnt seit über zwei Monaten der Theologiestudent Jurij Matwijtschenko aus der Ukraine. Wir haben ihn zur Situation in seinem Heimatland befragt.



Sehr geehrter Herr Matwijtschenko, zuerst eine persönliche Frage: Sie wohnen nun seit dem 1. Oktober 2013 im Wohnheim des Martin-Luther-Bundes und führen Ihre Studien in Erlangen fort. Welche Spezialisierung verfolgen Sie?
In der Ukraine habe ich das Priesterseminar der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, Moskauer Patriarchat in Poltawa, absolviert und das Examen erfolgreich abgeschlossen. Ich interessiere mich sehr für evangelische Theologie und hoffe, sie einmal im Seminar lehren zu können. Deshalb hat mich meine Kirche zum Studium nach Erlangen geschickt. Im Moment steht für mich das Lernen der deutschen Sprache im Vordergrund, und zusätzlich besuche ich als Austauschstudent schon Lehrveranstaltungen – z.B. über evangelische Ethik.

 

Sie können sich denken, dass wir mit großem Interesse die Entwicklungen in Ihrem Heimatland verfolgen. Was ist für Sie das Wichtigste an den verschiedenen Demonstrationen und Protesten?
Ich wohne nur 200 Kilometer von Kiew entfernt und bin schon sehr oft dort gewesen. Kiew ist meine Lieblingsstadt.
Deshalb bin ich jetzt auch beunruhigt, denn in der Stadt ist schon viel zerstört worden. Barrikaden wurden errichtet, und wo in dieser Vorweihnachtszeit eigentlich der riesengroße Weihnachtsbaum steht, ist bisher nur das Gestell aufgebaut – und an ihm hängen Plakate …
Ich stehe schon auf der Seite der europafreundlichen Kreise. Aber ich bin gegen die jetzige Opposition, zum Beispiel gegen die Handlungsweise der verantwortlichen Politiker.

 

Oh, das ist sehr interessant! Können sie das genauer erklären?
Die Opposition besteht aus drei Gruppierungen: Einmal »Batkiwschina« (»Heimatland«) mit Arsenij Jazeniuk als Vorsitzendem, dann »Swoboda« (»Freiheit«) unter Oleg Tjagnibog und schließlich »Udar« (»Schlag«) mit Wladimir Klitschko an der Spitze.
Batkiwschina hat seinerzeit in der Amtsszeit von Julija Timoschenko mit regiert, aber hat nichts zum Besseren verändert. Jetzt versprechen sie viel, aber ich traue ihnen nicht.
Dazu gibt es für mich eine persönliche Erfahrung: Vor etwa drei Jahren haben Verwandte von mir in Kiew in einem Betrieb gearbeitet und wurden vom Eigentümer »verpflichtet«, an einer Demonstration gegen die Regierung teilzunehmen. Wenn sie es nicht täten, würden sie keinen Lohn bekommen. So etwas kann man nicht machen!
Swoboda ist ukrainisch-nationalistisch und sehr intolerant anderen gegenüber, besonders gegenüber den Russen. Meine Mutter stammt aus Russland. Diese Diffamierungen von Russen durch die Swoboda-Anhänger sind beleidigend.
Am Anfang haben mir Klitschko und seine Partei Udar sehr gefallen. Wenn vor einem Monat Wahlen gewesen wären, hätte ich meine Stimme Klitschko gegeben. Aber im Zusammenhang mit den Demonstrationen hat auch Klitschko die Menschen aufgestachelt, Verwaltungsgebäude zu besetzen. Dabei hat es Übergriffe und Gewalt gegeben. Dafür haben m.E. auch die Leiter der Oppositionsparteien Mitverantwortung zu tragen – nicht nur die Regierung allein: Die ganze Welt sieht im Fernsehen, wie Demonstranten von Polizisten geschlagen werden, aber es gibt auch Videos, die zeigen, wie Demonstranten mit Stöcken, mit Sprays und mit Steinen gegen Uniformierte vorgehen.
Außerdem habe ich den Eindruck, dass einige Demonstranten von beiden Seiten bezahlt werden. Das ist nicht gut. Wie kann man auch 27 Tage lang demonstrieren, wenn man doch auf der Arbeit sein Geld verdienen muss? Wie kann das gehen?

 

Welche Hoffnung, welches Ideal hätten Sie denn? Wie sollte eine Veränderung erreicht werden?
Eine Zukunft für die Ukraine sehe ich nur in der Europäischen Union. Aber der Weg dahin muss ohne Gewalt gelingen! Mein Ideal ist also ein friedlicher und gewaltfreier Widerstand im Sinne Gandhis.
Einen anderen Weg bietet die Präsidentenwahl im Jahr 2015. Da kann ohne Rebellion und ohne gegen die Verfassung und die geltenden Gesetze zu verstoßen, eine neue Regierung gewählt werden. Auf diesem legalen Weg muss es gelingen, weil ohne Verfassung und Gesetz Anarchie herrschen wird.

 

Das Gespräch führte Dr. Rainer Stahl.