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Aktuelle Meldung



01.03.2013 - Kategorie: LD online, ELKRAS

LD online: Der Junge von der letzten Bank




Pfarrer Aleksander Gross aus Odessa in der Ukraine baut auf die junge Generation

 

Auszug aus dem Lutherischen Dienst 1/2013.



LD 1/2013

Kinder aus der Tagesstätte »Vifanija« – Bild: Gross

Sieben Studierende aus der Bibelschule (v.l.n.r.): Anja, Bogdan, Lena, Eugene (erste Reihe), Katja, Walerij und Mascha (zweite Reihe). Rechts unten Pfarrer Aleksander Gross. – Bilder: Gross

Mit seinen bei kräftigem Sonnenschein zugekniffenen Augen, mit seiner Ausgeglichenheit und Gründlichkeit erinnert er mich an einen Bauern, der seinen Wagen vorantreibt, ohne nach links oder rechts zu schauen.

 

Der Junge in der letzten Reihe

 

Pfarrer Aleksander Gross aus Odessa in der Ukraine kennen alle in Lettland, die seit Jahren in der Kinder- und Jugendevangelisation tätig sind. Schon seit zehn Jahren leitet Aleksander die Arbeit des Jugendzentrums, und im September startete die von ihm geschaffene Bibelschule. Neben diesen Verpflichtungen und dem Pfarrdienst in zwei Kirchengemeinden ist er auch als Präsident der Synode die prägende Figur der Kirchenverwaltung in der Ukraine. »In der Schule war ich der Junge in der letzten Reihe – jeder Gang zur Tafel war wie ein Weg zum Schafott«, sagt Aleksander, als »Svētdienas Rïts« bei ihm in Petrodolina, einer einstigen deutschen Niederlassung, zu Gast war, etwa 20 Kilometer von Odessa entfernt. Er berichtet über seine Arbeit und beginnt mit etwas Geschichte:

Zarin Katharina II. hatte die Deutschen aus Ungarn eingeladen, hierher in die ­Steppe bei Odessa zu kommen, die nicht besonders gepflegt war. In der Umgebung von Odessa gab es einst viele deutsche Siedlungen. Über das Leben der damaligen Deutschen schweigen die historischen Quellen allerdings. Viele wissen nicht einmal, dass die Industriestadt Odessa nur dank deutscher Hilfe entstanden ist. Die Deutschen waren es, die in Odessa den größten Teil der Fabriken erbaut haben. Wegen des Zweiten Weltkrieges ist die deutsche Geschichte von Odessa unbekannt und unzugänglich geblieben.

Dabei ist eine Tatsache sehr interessant: das Erste, was die Deutschen hier erbauten, war eine Kirche. Die Kirche war nicht nur ein Bethaus, sondern auch ein Zentrum für Bildung und Politik. Die erste deutsche Kirche befand sich gerade hier in Petrodolina. Und heute krönt sie die Kuppel einer orthodoxen Kirche.

Während des Ersten Weltkrieges floh ein großer Teil der Deutschen Bessarabiens (dem Gebiet zwischen der Moldau und der Donau) zusammen mit den Weißen Truppen nach Nord- und Südamerika. Die Übriggebliebenen wurden 1941 nach Mittelasien deportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier Leute aus der Mitte der Ukraine zwangsweise angesiedelt.

 

Heute lebt hier fast kein Deutscher mehr

 

Die Geschichte von Petrodolina als Dorf beginnt erst Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, als ein Abkommen zwischen der Ukraine und Deutschland über die Siedlungsdörfer für die einst deportierten Deutschen geschlossen wurde. Dorthin hätten die während des Zweiten Weltkrieges nach Mittelasien deportierten Deutschen zurückkehren können. Die deutsche Regierung ließ mehrere Dörfer bauen: Novogradovka, Aleksandrovka, aber die Deutschen, die aus dem Fernen Osten hierher kamen, machten sich gleich auf den Weg in ihre deutschsprachige Heimat. Heute lebt hier fast kein Deutscher mehr, was natürlich die Gemeindearbeit vor Ort stark prägt. Zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gehörten etwa 80 bis 90 Personen zu dieser Gemeinde, von denen praktisch alle – einschließlich des Pfarrers – nach Deutschland emigrierten. Lange Jahre versammelten sich hier danach nur einzelne Menschen, denen ich, sofern das in meinen Kräften stand, zu helfen versuchte. Damals war ich in ­Odessa in der St.-Pauls-Gemeinde in der Ju­gend­arbeit tätig, die sich dort gut ent­wickelte. Es fand ein Evangelisationsdienst in den Schulen statt, wir hatten selbst dort vier Sonntagsschulen, die Diakonie begann sich zu entwickeln. Allmählich entstand auch eine Organisation, die man heute das Jugendzentrum nennt. Vor kurzem ver­setzte mich meine Kirche hierher, damit ich die Jugendarbeit erweitere.

Ich bin im Nordkaukasus geboren und habe dort im Bezirk Stavropol gelebt, bis ich 14 Jahre alt war. Nach meinem Schulabschluss wollte ich etwas lernen, aber im Nordkaukasus war es sehr schwer, einen solchen Wunsch zu verwirklichen, denn dort herrschte eine gewaltige Korruption, und man brauchte für alles, was man erreichen wollte, sehr viel Geld. Mein Vater kam um, als ich sechs Jahre alt war. So musste Mutter uns allein erziehen. Ich zog zu meinen Tanten in den Westen der Ukraine, in die Nähe der Stadt Luck, etwa 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Dort beendete ich meine Ausbildung an einer technischen Schule, und dort fand ich auch 1994 den Weg zur Kirche. Ich wurde von einem aus der Ukraine in die USA ausgewanderten Pfarrer der Missouri-Synode getauft und konfirmiert.

Gottesdienst halten – ohne jede theologische Ausbildung

 Im Technikum wurde ich als Schweißer ausgebildet und erwarb einen Abschluss als Ingenieur für Metallverarbeitung. Aber gleich nach meinem Institutsabschluss ging ich nach Nowosaratowka in der Nähe von St. Petersburg zum Theologischen Seminar, um dort Theologie zu studieren. Schon 1995 sollte ich – ohne theologische Ausbildung – einen Gottesdienst halten: Der Pfarrer aus Amerika reiste nur alle zwei bis drei Jahre hierher. Und ich war auch in der Kirche der Junge von der letzten Bank, denn selbst hier saß ich immer ganz hinten. In dem schlichten Gemeinderaum sangen wir, von einem Akkordeon begleitet, die alten deutschen Lieder und lasen die vom Pfarrer verfassten Predigten, die er uns zugeschickt hatte. Nach einem solchen Gottesdienst kam ein Kirchenältester auf mich zu und sagte mir, dass ich den nächsten Gottesdienst leiten müsste. Die Woche bis zum nächsten Gottesdienst war die schwerste Woche meines Lebens! So viele Ängste durchlebte ich wegen der Texte, die ich dort sprechen ­sollte. Als ich vor die Gemeinde trat, ­spürte ich weder meine Hände noch meine Füße. An mehr kann ich mich heute nicht mehr erinnern …

Aber als ich nach dem Gottesdienst nach Hause ging, war ich der festen Überzeugung, dass das genau das sein würde, was ich mein ganzes Leben lang tun wollte. Danach studierte ich im Seminar und arbeitete auch dort, kehrte in die Ukraine zurück, wirkte dort acht Jahre in der Kirchenverwaltung mit, organisierte Seminare in Petrodolina, wo ich auch im Jugendzentrum und in der Bibelschule mitarbeitete.

In der ganzen Ukraine sind 31 Kirchengemeinden registriert, hauptsächlich in den großen Städten. 14 Pfarrer betreuen etwa 1500 Gemeindeglieder. Die Zahl der Gottesdienstbesucher wächst erst jetzt ­wieder allmählich. Viele Jahre lang schrumpften die Gemeinden. Das lag zum einen an der nationalen Thematik: Die Deutschen sind längst ausgereist, weshalb die Gemeinden sehr klein geworden sind. Zum anderen hatten die Gemeinden meiner Meinung nach kaum ein geistliches Fundament. Der Wunsch der Menschen in den 90er Jahren, sich als Deutsche fühlen oder irgendeine Hilfe aus Deutschland empfangen zu können, führte zu einem Zustrom, erwies sich aber letztlich als Illusion – als Ergebnis verließen die Menschen die Gemeinden wieder. Jetzt aber ist die Evangelisation unser Hauptthema – damit die Gemeinden zu neuem Leben erwachen und wieder eine geistliche Grundlage erhalten. Sonst, ­fürchte ich, wird von unserer Kirche nicht mehr viel übrig bleiben.

 

Ein wichtiger Baustein: das Jugendzentrum

 

Deshalb ist unser Jugendzentrum so wichtig! Da gibt es drei Akzente: Da ist zuerst die Mission und Evangelisation, in deren Rahmen wir mehrere Vorhaben verwirklichen. Wir veranstalten zum Beispiel Sommerlager oder – im Januar – eine Weihnachtsevangelisation in den Schulen der Umgebung. Unser Team bietet dabei drei Programme für verschiedene Altersstufen an, mit denen wir Schulen und Kindergärten besuchen.

Unser zweiter Schwerpunkt liegt bei der Bildung. Unser größtes Vorhaben ist unsere Bibelschule. Wir bieten theologische Seminare an, eine drei Jahre dauernde Predigerausbildung. Wir veranstalten regionale Konferenzen, fahren mit den Seminaren zu den Kirchengemeinden. Wir organisieren Gebetskonferenzen, Konferenzen für die Jugend, ein Konferenzlager für Sonntagsschullehrer, das in diesem Jahr (2012) Ende Oktober stattfinden wird. Dazu hatten wir auch zwei Pfarrer aus Lettland eingeladen, die der ELSSA (European Lutheran Sunday School Association) angehören: Ivars Jēkabsons und Ugis Brūklene. Leider können sie nicht kommen.

Unser dritter Schwerpunkt ist die Diakonie. In Novogradovka haben wir eine Hühnerzucht. Vielleicht werden wir dieses Vorhaben beenden müssen, denn der Ertrag durch den Verkauf der Eier ist sehr gering. Dort haben wir auch eine Kindertagesstätte und eine Diakoniestation. Die Kindertagesstätte »Vifanija« wird von 15 Kindern besucht, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen. Es gibt vier Gruppen mit je einem Betreuer oder einer Betreuerin, die ihnen am Nachmittag bei ihren Hausaufgaben für die Schule helfen. Wir verpflegen sie, waschen sie, kleiden sie, versorgen sie medizinisch – wir tun, was wir können. Es scheint ein kleines Projekt zu sein, aber es fordert doch viel Kraft und Geduld. Hier werden auch die Studenten unserer Bibelschule ihr Praktikum machen. Der Martin-Luther-Bund widmete im letzten Jahr seine »Konfirmandengabe« dieser Tagesstätte. 4760 Euro wurden gesammelt – vielen herzlichen Dank dafür! Wir haben auch eine kleine Apotheke und machen Hausbesuche. Die Menschen leben manchmal in Verhältnissen, die man sich nur schwer vorstellen kann.

 

Nach sieben Jahren konnte die Bibelschule eröffnet werden

 

Die Bibelschule konnten wir am 16. September 2012 eröffnen. Sie wird jetzt von sieben Studierenden besucht. Das ist ein Vorhaben, an dem ich seit sieben Jahren arbeite. Fünf Jahre lang waren alle in der Kirche gegen dieses Projekt, denn sie konnten nicht verstehen, wie wichtig es ist.

Wir möchten den Menschen Erfahrungen bei ihrer geistlichen Beziehung zu unserem Herrn und zur Heiligen Schrift vermitteln, zuerst für sie selbst und dann für ihren Dienst in der Kirche. Wie erwähnt, habe ich acht Jahre in unserer Kirchenverwaltung gearbeitet. Während dieser Zeit habe ich etwa 150 Seminare veranstaltet, aber wenn eine Kirche keine geistlichen Erfahrungen hat und sich nur auf eine nationale Grundlage stützt, dann bleiben alle erworbenen Erkenntnisse unverbindlich, werden nicht lebendig. Wir brauchen einen Ort, an dem nicht nur Wissen vermittelt wird … um zu begreifen, was zum Leben eines Christen gehört, um zu begreifen, wie die Heilige Schrift im Alltag lebendig werden kann.

Jetzt ist die Bibelschule für unsere Kirche ein zentrales Projekt – es wurde beschlossen, dass man nicht Theologie studieren und Pfarrer werden kann, ohne die Bibelschule absolviert zu haben!

 

Dieser Text basiert auf einem Gespräch von Chefredakteurin Inga Reča mit Aleksander Gross, erschienen in der lettischen evangelisch-lutherischen Kirchenzeitung »Svētdienas Rïts«/»Sonntagmorgen« 9/2012 vom Oktober 2012, übersetzt von KMD i.R. Johannes Baumann, Osterholz-Scharmbeck.

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 1/2013. Wenn Sie die weiteren Artikel – etwa Interviews mit dem Leitenden Bischof der VELKD, Gerhard Ulrich, und mit Pfarrer D. Pál Fónyad, einem »Mittler zwischen den Kirchen in Südosteuropa«, oder Berichte über die Feierlichkeiten in Wladiwostok anlässlich des Wiedererstehens der Pauluskirche vor zwanzig Jahren oder über die Lage der lutherischen Kirche in Orenburg und Sol Iljez in Russland – lesen möchten, bestellen Sie den » Lutherischen Dienst kostenlos.