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25.07.2012 - Kategorie: ELKRAS

LD online: Mit Zuversicht in die Zukunft




Geschichte und Gegenwart der Evangelisch-Lutherischen Kirche Ingermanlands

von Tuulikki Vilhunen

 

Auszug aus dem Lutherischen Dienst 3/2012



LD 3/2012

Der Hauptgottesdienst der Jubiläumsfeiern wurde in den Ruinen der 1632 erbauten Kirche von Moloskovitsa gefeiert. – Foto: ELCIR

Die 400-Jahr-Feier fand in Kupanitsa/Gubanizy statt. In der Mitte die Flagge des Ingermanlandes, umgeben von der russischen (links) und der finnischen Flagge. – Foto: ELCIR

Die Kirche in Moloskovitsa vor ihrer Schließung im Jahr 1937. – Foto: Antti Hämäläinen

Die neue Kirche in Harlu/Charlu in Karelien wurde im Sommer 2011 geweiht. – Foto: ELCIR

Die Evangelisch-Lutherische Kirche Ingermanlands in Russland feierte 2011 ihr vierhundertjähriges Jubiläum. Die erste finnischsprachige lutherische Gemeinde wurde 1611 in Lempaala auf der Karelischen Landenge gegründet. Das Gebiet gehörte damals zu Schweden. Am Entstehungsort der Kirche Ingermanlands steht heute eine Kapelle, die im Jahr 2001 eingeweiht wurde. An der Stelle der alten Kirche am Ufer des Sees steht ein Gedenkkreuz. Dieses Kreuz stand ursprünglich in der nun abgerissenen Kirche.

 

 

Finnen lassen sich in Ingermanland nieder

Das Luthertum gelangte in den 1570er Jahren mit deutschen Einwanderern nach Moskau. Der zweite Zweig des lutherischen Glaubens in Russland entstand in den 1580er Jahren durch Finnen, die sich in Ingermanland, dem heutigen Leningrader Gebiet, niederließen. Ursache war die Bedrohung durch den russisch-schwedischen Krieg. In der Folge des Friedens von Stolbowo (1617) gingen Estland und Ingermanland für mehr als hundert Jahre an Schweden. In der Zeit siedelten sich scharenweise Finnen aus Viipuri/Vyborg und Ostfinnland in Ingermanland an. 1703 eroberte sich Peter der Große das ingermanländische Gebiet von Schweden zurück.

Ingermanländer sind also in Russland wohnende Finnen, die im 17. Jahrhundert dorthin umsiedelten. In den 1850er Jahren gab es 72 000 Ingermanländer, im Jahr 1917 schon 144 000. Der lutherische Glaube wurde dem Volk Ingermanlands sehr lieb, und mit diesem Glauben bewahrte es auch seine Muttersprache. Bereits in den 1680er Jahren begann die Kirche mit dem Unterricht der finnischen Sprache in ihren Gemeinden. Später gab es in Ingermanland 300 Volksschulen.

Finnische Dörfer, von denen es bis zu 800 gab, lebten ihr eigenes Leben, umgeben von russischen, orthodoxen Siedlungen. Ohne die Kirche hätte das ingermanländische Volk kaum seine Nationalität, Sprache und Kultur beibehalten.

 

 

Wachstum, BlĂĽte und Untergang

In den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts wurden mehrere Gemeinden gegrĂĽndet, z.B. Toksova/Toksovo und Keltto/Koltushi (beide 1628), Skuoritsa/Skvoritzy (1624), Kattila, Soikkola und Novasolkka. FĂĽr sie wurde 1641 eine eigene Diözese gegrĂĽndet. Im Jahr 1655 gab es 58 Gemeinden mit 36 Kirchen.

Die BlĂĽtezeit erlebte die Kirche Ingermanlands im 19. Jahrhundert. Später, in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, gab es noch einmal eine kurze Hochzeit, als Lenin seine Politik gegen die Kirchen nach der Revolution und der schweren Nachkriegszeit abschwächte. Es entstand die groĂźe Hoffnung, dass die Kirche Ingermanlands wachsen und sich ausweiten dĂĽrfe.

In der Ă„ra Stalins verschärfte sich jedoch die kirchliche und nationale Politik. Das Jahr 1927 markierte einen Wendepunkt, weil damals z.B. das Gesetz in Kraft trat, demzufolge die Kirchengemeinden nicht mehr als juristische Person existieren konnten. An ihrer Stelle kamen »Dvadzatkas«, Gemeinschaften von 20 Personen. Diese wurden unterwandert von linientreuen Spitzeln, die Berichte erstatteten.

In dieser Zeit wurden so hohe Steuern erhoben, dass die Kirchengemeinden unter ihrer Last zusammenbrachen und nicht ĂĽberleben konnten. Die Kirchengebäude der abgeschafften Gemeinden wurden zu Kinos, Clubhäusern, Lagerhallen, Wohnhäusern, Fabriken, Sporthallen, Schwimmbädern, Kfz-Werkstätten â€¦ Ein groĂźer Teil dieser Gebäude kam noch mehr herunter und verfiel bis zur völligen Unbrauchbarkeit. Die finnischen Pfarrer wurden vertrieben, die ingermanländischen Pfarrer in Arbeitslager geschickt, wo die meisten zu Tode kamen.

Die schlimmste Phase traf die Kirche in den dreiĂźiger Jahren, als die Vertreibungen, Inhaftierungen und Hinrichtungen begannen. Besonders Nord- und Westingermanland litten darunter. In den Jahren 1929 bis 1931 wurden 18 000 Personen deportiert. Während der zweiten Vertreibungsperiode 1935/1936 waren es 27 000. Von 1929 bis 1938 wurden insgesamt etwa 60 000 Ingermanland-Finnen verbannt oder interniert. Im Jahr 1938 ist das Leben der ursprĂĽnglichen Ingermanländischen Kirche völlig zum Erliegen gekommen.

1941 lebten in Leningrad noch 30 000 Ingermanländer, die während der Belagerung von Leningrad eingekesselt wurden. Schätzungsweise die Hälfte von ihnen brach unter dem Elend zusammen. 10 000 wurden evakuiert und zwischen dem 23. und 28. März 1942 ĂĽber den »Weg des Lebens«, d.h. ĂĽber das Eis der Ladoga-See, nach Sibirien transportiert. Berechnet man dazu die während des Zweiten Weltkriegs nach Finnland verbannten und von dort zurĂĽckgekehrten 55 000 Ingermanländer, die auch ĂĽberall in Russland zerstreut wurden, steigt die Zahl der Vertriebenen auf mehr als 120 000. Ingermanland hatte jahrhundertelang als Schlachtfeld des Ostens und des Westens gedient und war nun von Ingermanländern und Finno-Ugriern geräumt. Das Land war zerstört, viele Ortschaften waren verbrannt. Das eigentliche Ingermanland existierte nicht mehr.

 

 

Die Kirche erhebt sich aus Asche und Schutt

Nach dem Tod Stalins 1953 begann die Rückkehr der Ingermanländer aus Sibirien und anderen Gebieten der Sowjetunion. Die Bedingungen verbesserten sich. Pfarrer Paavo Haimi und der Gemeindeverwalter Juhani Vaasseli, die zwanzig Jahre Arbeitslager überlebt hatten, kamen nach Petrosawodsk. Sie reisten zu Fuß durch das ehemalige Ingermanland und predigten das Wort, tauften und beerdigten. Man nennt diese Zeit heute die »Zeit der geistlichen Väter« (1953–1963). Nach ihrem Tod begann die »Zeit der geistlichen Mütter«. Es gab etwa zehn von ihnen, u.a. Maria Kajava, Katri Kukkonen, Ida Kyllästen und Maija Mehiläinen. Unter der Führung von Laien versammelten sich die Gemeindeglieder trotz des Risikos, inhaftiert zu werden, in Privathäusern und auf Friedhöfen.

Ingermanländer hatten sich schon in den 1950er Jahren in Petschory an der Grenze zu Estland und seit 1961 in Narva versammelt. In Petrosavodsk in Karelien durfte man die erste ingermanländische Gemeinde im Jahr 1970 registrieren lassen. Im eigentlichen Ingermanland folgte Puschkin im Jahr 1977. Die Gemeinden gehörten der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche an. In der Gemeinde Puschkin wuchsen zwei Jugendliche auf: Arvo Survo, Evangelist des ingermanländischen Volkes, und Aarre Kuukauppi, der erste ingermanländische Bischof seit 1996.

Das tausendjährige Jubiläum der Russischen Orthodoxen Kirche 1988 war ein Wendepunkt fĂĽr die religiösen Gemeinschaften in Russland. Der Generalsekretär der kommunistischen Partei nahm am Fest teil – fĂĽr das Volk war das das Zeichen, dass es nun auch offiziell erlaubt war, in die Kirche zu gehen. Als die Kirche von Kupanitsa/Gubanitzy zurĂĽckgegeben worden war, löste das einen nicht vorhersehbaren Anschub fĂĽr den Wiederaufbau der Ingrischen Kirche aus. Mit unerwarteter Geschwindigkeit erfolgte die Wiedergeburt der Kirche Ingermanlands. Alte groĂźe Gemeinden wurden wieder registriert: etwa Keltto/Koltushi (1989), Toksova/Toksovo, Skuoritsa/Skvoritzy, Kosemkina/Kusjomkino, Hatsina/Gatshina und die Gemeinde der Marienkirche in St. Petersburg (1990). Im Jahr 1991 gab es bereits 16 Gemeinden. Ein kraftvoller Wiederaufbau der Kirchen begann.

Heute hat die Kirche Ingermanlands mehr als 80 Gemeinden, die auĂźer im ehemaligen Ingermanland noch weit in Sibirien, in Murmansk im Norden und in Vladikavkas im sĂĽdlichen Nordossetien liegen. Sie sind weitgehend aus der Initiative der dort lebenden Ingermanländer entstanden. DarĂĽber hinaus gibt es Gemeinden der Kirche Ingermanlands unter den finno-ugrischen Völkern in der Republik Mari El sowie unter den Mari in Baschkortostan, Mordvinien, Udmurtien und Komi. Es gibt auch je eine Gemeinde in Tatarstan und Tschuvaschien.

Zwischen der Wolga und dem Ural liegt das wichtigste Bauvorhaben der 2010er Jahre im Dekanat Ural, wo man eine neue Kirche in der Hauptstadt der Republik Tatarstan, in Kazan, erbaut. Im Gebiet des Dekanats Ural wohnen drei Millionen Mitglieder der finno-ugrischen Völker – und fĂĽnf Millionen Tataren, das weltweit nördlichste muslimische Volk. Kazan ist nach Moskau und St. Petersburg die drittgrößte Stadt im europäischen Teil Russlands. Die dortige Gemeinde ist vor neun Jahren entstanden und seither deutlich gewachsen. Neue Kirchen werden ebenso in Murmansk und in Karatusha, Sibirien, geplant.

 

 

Die Zukunft

Heute steht die Kirche Ingermanlands wieder einmal an einem Wendepunkt. Sie ist mittlerweile offiziell russischsprachig, weil die finnische Sprache mit einigen anderen Sprachgruppen zur Minderheit wird.

Operativ und administrativ ist die Kirche Ingermanlands bereits unabhängig. Das theologische Institut in Keltto/Koltushi hat Mitarbeiter für die Kirche ausgebildet und kann dank seiner Bildungslizenz die Ausbildung intensivieren und besser planen als vorher.

Wirtschaftlich aber kann die Kirche Ingermanlands noch nicht selbständig existieren. In Russland kennt man keine Kirchensteuer, und die Kirche darf sich nicht geschäftlich engagieren. Die Ökonomie der Gemeinden ist oft von ausländischer Hilfe, vor allem von finnischen Gemeindepartnerschaften, abhängig.

Allerdings steht im Mittelpunkt des kirchlichen Lebens die geistliche Arbeit. Die Lehre der Bibel wird gebraucht, weil die Kirche auch durch sie wächst und stärker wird. Die Kirche Ingermanlands will vielfältige und alle Altersgruppen umfassende, offene Gemeindearbeit leisten. Die Zukunft in Russland steht ihr nach Jahren der Unterdrückung nun offen, und sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Sehnenden und Suchenden Fürsorge, Hilfe und Liebe zu bringen.

Die Kirche Ingermanlands hatte niemals in ihrer Geschichte eine herrschende Rolle inne; sie wollte immer den Menschen und den ihr Anvertrauten dienen.

Die Themen, die in jüngster Zeit in der Lutherischen Weltgemeinschaft aktuell waren, sind in Ingermanland nicht diskutiert worden, sagt Bischof Aarre Kuukauppi. Aufgrund ihrer reichen, aber schweren Geschichte und der vielen Verfolgungen unterscheidet sich die evangelisch-lutherische Kirche Ingermanlands in der Theologie und in manchen ethischen Fragen von ihren westlichen Schwesterkirchen, und sie blickt voller Zuversicht in die Zukunft – im Bewusstsein, dass die historischen Ereignisse und ihre Auswirkungen, das Vertrauen in Gott und seine barmherzige Fürsorge und Lenkung sie stärken und führen werden.

 

Tuulikki Vilhunen ist Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Evangelisch-Lutherischen Kirche Ingermanlands in Russland. Übersetzung aus dem Finnischen: Ulla Mäkinen.
Quellen: Pekka Nevalainen/Hannes Sihvo: Inkeri – Historia, kansa, kulttuuri, SKS 1992; Juha Väliaho: Volgan ja Uralin välillä, SLS 2004; Arvo Survo: Puskinin seurakunta 30 vuotta, 2007.

 

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 3/2012. Wenn Sie die weiteren Artikel – Berichte ĂĽber das 125-Jahr-Jubiläum des Martin-Luther-Bundes Hamburg, ĂĽber Erinnerungen an eine Jugend in Kirgisien, ĂĽber einen Besuch in der lettischen Diözese Daugavpils oder Interviews mit dem Bischof der Norddiözese der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn, Dr. Tamás Fabiny, oder mit dem Vizepräsidenten des Martin-Luther-Bundes, Dr. Rudolf Keller – lesen möchten, bestellen Sie den » Lutherischen Dienst kostenlos.