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31.08.2011 - Kategorie: ELKRAS

USBEKISTAN: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn




Am 28. August 2011 jährte sich der Beginn des Genozids an den Russlanddeutschen in der UdSSR durch Deportation zum siebzigsten Mal. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir hier die Predigt, die Bischof Kornelius Wiebe an diesem Tag in der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Taschkent in Usbekistan gehalten hat:



Das Gleichnis vom verlorenen Sohn

 

Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne.
Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land, und er fing an zu darben und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!
Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
Ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küßte ihn.
Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße.
Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; laßt uns essen und fröhlich sein!
Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen und rief zu sich einen der Knechte, und fragte, was das wäre.
Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat.
Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.
Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre.
Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verpraßt hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.
Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.
Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.
(Lukas 15,11–32)

 

 

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Wir haben uns so daran gewöhnt, wie zurückhaltend das Evangelium diese Szene zeichnet, dass wir sie ruhig lesen, einfach wie den Beginn einer längeren Erzählung. Würden wir auch nur eine Minute lang darüber nachdenken, was diese Worte bedeuten – uns würde das schiere Entsetzen packen:

 

»Vater, gib mir â€¦Â« – Das bedeutet doch: »Vater, gib mir jetzt, was mir nach deinem Tod zufallen wird. Ich will mein Leben leben, und du stehst mir dabei im Weg. Ich kann nicht warten, bis du irgendwann einmal stirbst; in der Zwischenzeit muss ich auf die Vorteile verzichten, die Reichtum und Freiheit gewähren. Stirb doch endlich! Für mich existierst du sowieso nicht mehr. Ich bin erwachsen und brauche  keinen Vater mehr. Ich will Freiheit und das, was du erworben hast. Stirb und lass mich jetzt endlich leben!«

 

Von seinen Freunden verlassen und von jedermann abgelehnt, ist der verlorene Sohn nun mit sich allein – und zum ersten Mal horcht er in seine Seele hinein. Bar aller Verführungen und Versuchungen, befreit von Lügen und Ködern, die er für Befreiung und für volles Leben gehalten hatte, erinnert er sich an die Kindheit: Damals hatte er einen Vater und musste nicht wie ein Waisenkind obdachlos und hungrig umherirren. Ihm wird klar, dass er mit jenem verbalen, seelischen Mord eigentlich nicht seinen Vater, sondern sich selbst getötet hat. Und ihm wird bewusst: Nur diese grenzenlose Liebe, in der sein Vater sein eigenes Leben an ihn hingegeben hat, nur diese Liebe ist seine letzte Hoffnung. Und so ist das erste Wort seines Schuldbekenntnisses vor seinem Vater nicht »Vergib«, sondern: »Vater«!

 

Er erinnert sich, dass sich die Liebe seines Vaters grenzenlos über ihn ergossen hatte. Und dieser Liebe waren alle Wohltaten und Freuden des Lebens entsprungen … Er begreift: Ich habe Gott verraten und verkauft, aber Gott hält immer noch zu mir …

 

Da kommt der ältere Sohn. Er war schon immer ein guter Arbeiter im Haus des Vaters gewesen, er hat ein tadelloses Leben geführt. Aber er hat eines nicht verstanden: Die Hauptsache in der Vater-Sohn-Beziehung ist nicht die Arbeit, sondern das Herz, ist nicht Pflicht, sondern Liebe. Er war in allem treu gewesen; aber sein Vater war nur nach außen hin sein Vater, er war nur äußerlich sein Sohn. Einen Bruder hatte er nicht.

 

Nach außen orientierten Menschen, die alles richtig gemacht haben, scheint es viel schwerer zu fallen, solche einfachen Dinge zu verstehen. Beschließen andere Menschen, auch ihre treulosen Brüder nicht im Stich zu lassen, ist diesen ach so korrekten Tadellosen dieser Gedanke völlig fremd. Sie leben nebeneinander her, wenn auch nicht getrennt – sie wohnen beieinander, aber ohne tiefe Einheit.

 

Und hier geschieht etwas, das unser Verstehen übersteigt: Der Vater nimmt den verlorenen Sohn nicht einfach wieder auf und verzeiht ihm!

 

Der Vater geht noch weiter – er überreicht dem Sohn seinen Ring, und dieser Ring ist nicht irgendein Ring. Im Altertum konnte nicht jeder lesen; deshalb bekamen Dokumente und Verträge durch den Aufdruck eines Siegelrings ihre Gültigkeit. Jemandem den Ring zu geben, bedeutete, das Leben, das Eigentum, die Familie und die Ehre – eben alles – auszuhändigen.

 

Der Schluss bleibt offen. Nach wie vor ist die Familie gespalten. Mit dem verlorenen Sohn können wir aus eigener Erfahrung mitfühlen; der ältere Sohn dagegen bleibt in jeder Hinsicht »im Rahmen«. Was nun dient der Versöhnung der Brüder und der Wiederherstellung der Familie?

 

Wenn der ältere Sohn erkennt, dass sein Pharisäertum und seine Überheblichkeit mit der christlichen Liebe und mit der Vergebung nichts, aber auch gar nichts zu tun haben, die unser himmlischer Vater von uns erwartet? Oder wenn der jüngere Sohn einsieht, dass sein Versuch, ohne den Vater sein Leben zu leben, nur zum totalen Bankrott geführt hat?

 

Gibt es in diesem Gleichnis überhaupt Einsichtige und Ankläger? Was sehen wir in dieser so lebensnahen Geschichte des Zerfalls einer normalen Familie? Vernehmen wir die direkte Aufforderung, den Streit zu beenden? Wie gerne wollen wir das Zerwürfnis zwischen dem verlorenen und dem selbstgerechten Sohn beilegen.

 

Wir können zum Vater zurückkehren. Wir können mit Hoffnung und im vollen Vertrauen zu ihm zurückkehren, weil Er ein Beschützer unserer Würde ist. Er will unsere Rettung. Er fordert nur eines: »Gib mir, mein Sohn, dein Herz«, ich kümmere mich um den Rest, wie der Weise sagt. So werden wir Schritt für Schritt geführt – weg aus unserer Blindheit und Gottesferne, in der wir uns doch so sehr danach sehnen, die Fülle Gottes in uns zu erleben und Seinen Sieg über alles um uns herum, das uns Not macht. Doch dieser Weg führt uns schließlich vor den Richterstuhl Gottes. Wir sehen, wie dieses Gericht so einfach ist und wie groß die Hoffnung in uns sein muss, diese Hoffnung, mit der wir uns Gott in der festen Gewissheit nahen, dass Er wohl Richter, in erster Linie aber unser Erlöser ist; dass Ihm der Mensch so unendlich viel wert ist, dass Ihm unsere Errettung so viel wert ist wie das ganze Leben, der ganze Tod, jeden Kampf und die ganze Gottverlassenheit, die Gottes eingeborener Sohn für uns ertragen hat.

 

Wir alle träumen von der Wiedergeburt einer deutschen Republik an der Wolga. Denken wir auch daran, dass dies in Gottes Hand steht? Wir sollen uns als einiges Volk finden. Es gibt keinen anderen Weg: Versöhnung mit Gott, ein zur Ruhe gekommenes Gewissen, gegenseitiges Verzeihen.

 

Das tatsächliche Problem ist die Heimatlosigkeit unserer Seele. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn fasst der Vater die ganze Lebensgeschichte des verlorenen Sohnes in einem Satz zusammen: »Er war verloren und ist wiedergefunden worden.« Als der verlorene Sohn mit Pauken und Trompeten den Vater verließ, hatte er noch keine Ahnung davon, was das für sein Leben bedeutete – dass er nun heimatlos geworden war. Es sollte eine Weile dauern, bis ihm das dämmerte. Schließlich hatte er vom Vater eine Menge Geld bekommen. So lange er nur genügend Geld hatte, konnte er seine tatsächliche Lage ausblenden.

 

Doch irgendwann war das Geld verpulvert, und nun wurde ihm klar: Er hatte kein Zuhause mehr. Der Abend kam heran, die Nacht brach herein, und jeder eilte nach Hause. Die Vögel bargen sich in ihren Nestern. Nur der verlorene Sohn stand einsam auf der Straße: »Ich kann nicht nach Hause gehen, ich habe kein Zuhause, keine Heimat mehr.« Dann wurde es Winter und kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Jeder saß im trauten Heim vor dem Ofen. Nur der verlorene Sohn stand frierend auf der Straße und musste am eigenen Leibe erleben, was mein Vater Kornelius Iwanowitsch Wiebe oft sang:

 

»Die Krähen schrei’n und ziehen schwirrend
flugs zur Stadt: Bald wird es schnei’n –
Weh dem, der keine Heimat hat!

 

So sterbe ich und keiner kennt
mein’s Grabes Statt. Bin heimatlos.
Weh dem, der keine Heimat hat!«

 

Das ist das Bild der Seele, die die Heimat verloren hat. Die Heimat unserer Seele ist der Friede mit Gott. Frieden mit Gott finden wir nur durch den Herrn Jesus Christus, denn durch Seinen Tod am Kreuz von Golgatha schenkt Er uns Vergebung userer Sünden und unserer Schuld und die Rechtfertigung vor Gott. Amen!

 

Ihr Bruder in Christus,

+ Kornelius Kornejewitsch Wiebe, Bischof der ELK Usbekistan,

Deutsche Evang.-Luth. Gemeinde Taschkent