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Aktuelle Meldung



11.05.2007 - Kategorie: Estland

ESTLAND: Ein offener Brief zur Lage in Tallinn




In den letzten Tagen erschrecken uns immer wieder Nachrichten über Auseinandersetzungen in Estland, die im Zusammenhang mit der Versetzung des früheren sowjetischen Ehrenmals in Tallinn aufgekommen sind. Vier Pfarrer der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche haben einen offenen Brief an alle Freunde ihrer Kirche und ihres Landes geschrieben, in dem sie authentisch aus estnischer Sicht über diese Ereignisse informieren. Diesen Brief dokumentieren wir vom Martin-Luther-Bund aus gern:



Verfasst haben diesen Brief die Pfarrer E. Auksmann, V. Vihuri, I. Toomet und J. Tammsalu. Sie haben gebeten, ihn an alle Estland-Freunde und Personen der Partnerschaftsarbeit weiterzuleiten.

 

Liebe Freunde,

in den letzten Jahren hat die Frage des »Bronzesoldaten« in Estland zu leidenschaftlichen Diskussionen geführt und die Stimmung im Land sehr aufgeheizt. Es geht dabei um ein Denkmal, das im Stadtzentrum von Tallinn [gegenüber der Nationalbibliothek und der Kaarli-Kirche] stand. In der sowjetischen Ideologie wurde es als »Monument der Befreier« [vom Nationalsozialismus] bezeichnet. Für die Esten war es ein Symbol für die Jahrzehnte der Sowjetbesatzung und der Verachtung der estnischen Unabhängigkeit.

Nach langen Gesprächen hat die estnische Regierung klären wollen, ob in unmittelbarer Nähe zum Denkmal Gefallene des Zweiten Weltkriegs begraben worden sind. Falls dies so sein sollte, hätte man die sterblichen Ãœberreste exhumiert und auf einem Militärfriedhof beigesetzt. Aufgeheizt durch Provokationen der russischen Regierung versammelten sich ca. 1000 russischsprachige Jugendliche, um dagegen zu demonstrieren. Dabei kam es zu Ausschreitungen im Tallinner Stadtzentrum, die die ganze Nacht andauerten. Es entstanden viele Zerstörungen, Geschäfte wurden überfallen und gegen Esten rassistische Parolen gebrüllt. Es gab viele Verletzte. Ein 20-jähriger Russe ist durch Messerstiche gestorben, die vermutlich von einem Russen verursacht wurden.

Leider haben sich einige estnische Jugendliche von den Provokationen mitreißen lassen und sind dagegen aufgetreten.

Als die Lage sich zuspitzte, entschied die estnische Regierung, das Denkmal zu entfernen. Dies wurde sofort umgesetzt. Zudem wurde der Alkoholverkauf in Tallinn und Umgebung bis zum 3. Mai verboten. Die Unruhen sind damit nicht beendet. Deshalb bitten wir Sie, für uns zu beten und in Ihren Gemeinden richtige Informationen über diesen aktuellen Teil estnischer Geschichte weiterzugeben.

Esten halten es nicht für richtig, die im Krieg Gefallenen zu verachten. Aber es ist ebenfalls nicht richtig, die Besatzer zu heroisieren oder zu idealisieren und die russisch-estnische Geschichte zu verfälschen. Die Estnische Republik wurde zuerst 1940 von der Sowjetunion annektiert und nach der deutschen Besatzung 1944 nochmals besetzt. Die Sowjetokkupation dauerte über 50 Jahre. In dieser Zeit sind ca. zehn Prozent der estnischen Bevölkerung gewaltsam [durch Deportationen, Verfolgungen, Widerstand] ums Leben gekommen.

Estnische Männer, die gegen die Sowjetokkupanten vom Frühjahr bis Herbst 1944 gekämpft haben, taten das nicht für Hitler oder den Nationalsozialismus, sondern für die estnische Freiheit. Im September 1944, als die Sowjettruppen Tallinn besetzten, hatten sich die Deutschen schon zurückgezogen. Die Unabhängigkeit Estlands war wieder ausgerufen worden. Es ist eine russische Lüge und Geschichtsfälschung, dass sie Tallinn von den Deutschen befreiten.

Die Historiker haben belegt, dass durch den Widerstand der Esten, der wegen des großen Ungleichgewichts der Kräfte schließlich doch gebrochen wurde, die finnische Unabhängigkeit bestehen blieb und dort Zehntausende von Kriegsflüchtlingen überleben konnten.

Wir sind dankbar für Ihre Fürbitten und Hilfe, in Namen des Herrn.


Übersetzung: Pröpstin i.E. Merike Schümers-Paas